Warburg (red). 25 Jahre nach der Erstauflage gibt der Museumsverein Warburg die Erinnerungen von Ludwig Weingärtner, Victor Niemeyer und Theodor Niemeyer an ihre Warburger Kindheit unter dem Titel „Das Paradies unserer Warburger Kindheit“ neu heraus. Die drei Texte bieten in ihren detailreichen, von Sympathie getragenen Rückblicken ein lebendiges Bild der Vergangenheit der Hansestadt im 19. Jahrhundert. Mit der Neuausgabe ist der Museumsverein einem häufig geäußerten Wunsch gefolgt, da die Ausgabe von 1992 schon seit langer Zeit vergriffen war.

Ein identischer Wiederabdruck kam aus mehreren Gründen nicht in Frage. Daher hat der Museumsverein die Gelegenheit genutzt, der Neuauflage ein zeitgemäßes Erscheinungsbild zu geben und die Texte bis auf wenige, gekennzeichnete Passagen nun vollständig abzudrucken. Die Einführung, die biographischen Notizen zu den drei Verfassern und der umfangreiche Anmerkungsapparat von Wilhelm Bockelkamp wurden beibehalten und entsprechend ergänzt. Sie bieten zusätzlich zu den Erinnerungen der drei späteren Juristen informative Fakten und Details zur Warburger Stadtgeschichte.

Knapp drei Jahrzehnte zwischen 1849 und 1876 umfassen die Erinnerungen der drei Autoren an ihre Warburger Zeit. Der 1843 geborene Ludwig Weingärtner kam 1849 nach Warburg und verbrachte hier acht Jahre. Sein persönlicher Alltag war von der Schule geprägt, entsprechend nehmen die Schilderungen der „Elementarschule“ und des fortführenden „Progymnasiums“ samt Lehrern und Mitschülern einen breiten Raum ein. Wenn ärmere Kinder dem Unterricht fernblieben, kam als Entschuldigung: „Ich hatte keine Schuhe, meine Hose wurde geflickt, meine Mutter hat mein Hemd gewaschen.“ Von solchen Widrigkeiten blieb Ludwig als Sohn des gutsituierten Kreisgerichtsdirektors zwar verschont, dennoch musste auch er alte Kleidung auftragen. So beispielsweise eine Hose seines Vaters, die ihm jedoch gleich am ersten Tag zerriss. Den Vorwürfen seiner Mutter, dass der Vater die Hose immerhin sieben Jahre getragen habe und er sie nun gleich ruinierte, konnte Ludwig entgegnen, dass sie wohl beim ersten Fallen nicht so schnell kaputtgegangen wäre, wenn der Vater sie ein paar Jahre weniger getragen hätte. Nicht nur aus der Schule wird bei Weingärtner geplaudert, auch weiß er vom Beginn des Eisenbahnzeitalters inklusive des königlichen Besuchs zur Streckeneinweihung zu berichten. Er lässt Originale und verschrobene Käuze in seinen Schilderungen wieder lebendig werden. Ungewöhnlich liest sich die Bestrafung eines wegen Zauberei angeklagten Mannes: Mit einem Schild um den Hals musste sich der Delinquent am Neustadtmarkt auf einen Tisch stellen und wurde dort auf Weisung des Polizeidieners von der städtischen Jugend ausgelacht.

Auch war bereits damals eine Renitenz der Warburger gegenüber den Verkehrsverordnungen feststellbar. Aus Sicht des späteren Juristen resümiert Weingärtner hierzu, dass es „wohl schwer gewesen sein wird, meine Landsleute von ihren alten, angestammten ‚Rechten‘ abzubringen! Jedenfalls waren etwa bestehende Vorschriften der Behörden wenig bekannt, noch weniger wurden sie beachtet.“ Die Brüder Victor (1863–1949) und Theodor (1857–1939) Niemeyer kamen als Söhne des Rechtsanwalts und Notars Hans Niemeyer nach Warburg und verbrachten hier zwischen 1866 und 1876 ihre Kindheits- und Jugendjahre. Naheliegender Weise nimmt die Schule auch in deren Texten einen breiten Raum ein. Ihren Schilderungen kann aber auch anschaulich entnommen werden, wie sich die Kriegsereignisse 1870/71 auf das städtische und schulische Leben auswirkten.

In den Erinnerungen fehlt die Begegnung des siebenjährigen Victors mit dem kaiserlichen Kronprinz Friedrich und dessen Gattin ebenso wenig wie die eher unrühmliche Zerstörung des gesamten Bestandes an eingekochten Früchten durch kindliche Unbesonnenheit oder die Vertreibung der Ratten aus dem Wohnhaus durch den trommelnden Bruder. Einen breiten Raum nehmen die Schilderungen des außergewöhnlich vielfältigen kulturellen und musikalischen Lebens im elterlichen Hause und in der Stadt ein. Dagegen war Theodor Niemeyers Versuch, mit zwei Mitschülern eine wissenschaftliche Vereinigung namens „Minerva“ zu unterhalten, nicht von Erfolg gekrönt. Obwohl sich die Schüler in ihren Sitzungen gegenseitig Vorträge über Theorien zur Entstehung der Erde, über das altenglische Heldengedicht „Beowulf“ oder über die Geschichte der Warburger Burg gehalten hatten, musste die „Minerva“ zum Leidwesen der Beteiligten wieder aufgelöst werden, da der Direktor des Progymnasiums die dafür erforderliche Genehmigung verweigerte. Ob es wohl anders gelaufen wäre, wenn man damals schon geahnt hätte, dass mit Peter Hille eines der drei Mitglieder später als Schriftsteller und Dichter bekannt wurde? Über 40 historische Abbildungen aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert bereichern und ergänzen die Texte.

Das auf 20 x 29 cm erweiterte Format bietet den Abbildungen eine ansprechende Größe. Die Neuauflage umfasst insgesamt 112 Seiten, von denen 29 Seiten Ludwig Weingärtners Text „Aus meiner Vaterstadt Warburg“, 26 Seiten den Warburger Passagen aus Victor Niemeyers „Lebenserinnerungen eines Siebzigjährigen“ und 18 Seiten den entsprechenden Auszügen aus Theodor Niemeyers „Erinnerungen und Betrachtungen aus drei Menschenaltern“ gewidmet sind. Die Neuauflage der Kindheitserinnerungen begründet eine neue Reihe des Museumsvereins, die „Warburger Geschichtshefte“. Diese Reihe soll der Veröffentlichung von Erinnerungen, Chroniken und Beiträgen zur regionalen Geschichte dienen. Das „Paradies unserer Warburger Kindheit“ ist ab sofort im Museum im „Stern“ und im örtlichen Buchhandel für 8 Euro erhältlich.